Stellungsbewertung

Die Währung ist der Bauer.

Eröffnungen kann man auswendig lernen. Nicht alle, klar. Es gibt einfach zu viele und auch zu viele Varianten, das Eröffnungswissen von Profis geht aber immerhin in die Tausende. Auch Mattendspiele kann man lernen. Ebenso spezielle Bauernendspiele oder ähnliches. Die meisten Züge muss man jedoch in Situationen ausführen, in denen man nicht mehr auf auswendig Gelerntes zurückgreifen kann. Man ist dann aus der "Theorie raus", sagt der Schachspieler. Wie entscheidet man dann aber, ob ein Zug, den man plant, gut ist? Kann man das vielleicht irgendwie ausrechnen oder messen? Man will ja nicht bloß "fühlen" können, ob eine Stellung gut ist, man bräuchte richtige Kriterien zur Bewertung.

Hier hilft ein Blick wie die ersten Schachprogramme mit dem Problem umgegangen sind und wie die eigentlich den besten Zug finden konnten. Die haben nämlich stur einfach alle möglichen Züge ausprobiert und dann abgespeichert bei welchem man hinterher mehr Material hat als vorher. Mehr Material? Ja, man ordnet jeder Figur, entsprechend ihrer Stärke, einen Wert zu, einen Tauschwert quasi. Die schwächste Figur ist z.B. der Bauer, er entspricht der kleinsten Einheit 1. Und dann hat man sich, schon lange vor den ersten Schachprogrammen, überlegt wie viele Bauerneinheiten ein Springer, ein Läufer, ein Turm oder die Dame wert sind. Nur der König ist unbezahlbar, er kann ja auch nicht geschlagen werden, weshalb er keine explizite Wertigkeit besitzt.

Diese Wertigkeiten, die sich aus den Erfahrungen der Schachspieler gebildet haben, sind wie folgt:

Figur Bauerneinheiten
Dame 9
Turm 5
Läufer 3 (3,25)
Springer 3 (2,75)
Bauer 1

 

Die Schachprogramme haben nun wie wild alle möglichen Züge vorausberechnet und immer zusammengezählt welcher Materialunterschied jeweils entsteht. Eine positive Zahl bedeutet einen Vorteil für Weiß, eine negative Zahl einen Vorteil für Schwarz. Und der Zug mit der besten "Bilanz" wurde dann vom Programm gewählt. Die Programme konnten damals bereits mehrere hunderttausend Züge pro Sekunde berechnen auf gängiger Hardware und waren dadurch den meisten Menschen weit in der Spielstärke überlegen. Ein Mensch schafft ja nur ungefähr einen Zug pro Sekunde, prüft dafür aber nicht die ganzen Züge, die eh keinen Sinn ergeben. Heutige Programme berechnen sogar millionen Züge pro Sekunde, ganz ohne spezielle Hardware und können so problemlos viele Züge im Voraus alle möglichen Varianten berechnen. Auf Supercomputern oder Computerzusammenschlüssen, sog. Clustern, sind wir dann schon im Milliarden- oder gar Billionenbereich an Zügen/Stellungen pro Sekunde. Zusätzlich nutzen die Computer Eröffnungs- und Endspielbibliotheken, in denen alle gängigen Eröffnungen und typische Endspiele gespeichert sind. Auf diese Weise kann es passieren, dass ein Computer 7 Züge vorausberechnet und dabei eine Stellung aus einer seiner Bibliotheken findet, die in 23 weiteren Zügen zwingend zum Matt führt. Der Computer hat ein Matt in 30 Zügen gefunden... beängstigend! Oder faszinierend?!

Diese reine Materialberechnung soll dann also unser erstes Bewertungskriterium sein um Partiestellungen oder geplante Züge überprüfen zu können. Das kann man sich zur Not im Geiste richtig vorsagen und mit den Fingern die Bauerneinheiten/Punkte mitzählen: "Wenn ich den Springer jetzt schlage und er dann den Läufer und ich wieder den, dann kann er die Gabel machen, ich aber seinen Turm aufspießen... das macht dann?" Niemals ohne Grund auf Material verzichten! Und wenn man es schon nicht mehr verhindern kann, dann wenigstens noch das beste aus der Situation machen, indem man so wenig wie möglich verliert oder so viel wie möglich selber noch wegnimmt oder die Stellung des Gegners zumindest versucht zu "beschädigen".

Kann das aber alles sein? Rechnet mal das reine Material aus in folgender Stellung:

Königssicherheit.

Das ist die Fegatello Vaiante im Zweispringerspiel im Nachzug: 1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lc4 Sf6 4.Sg5 d5 5.exd5 Sxd5 6.Sxf7 Kxf7 7.Df3+ Ke6

Nach Material steht es -2, also sehr gut für Schwarz. Aber wollet ihr jetzt lieber mit Weiß oder Schwarz weiterspielen? Der schwarze König muss helfen den Springer zu decken, rennt ungedeckt mitten auf dem Feld herum, Weiß kann mit 8. Sc3 weiter Druck entwickeln und nur wenn Schwarz ganz genau spielt, kommt er überhaupt heil aus der Sache raus. Aufgrund der mangelhaften Königssicherheit ist die Stellung also eher leicht positiv für Weiß zu bewerten. Vielleicht mit +0,50 oder sogar +1.00.

Merkt ihr, dass ich langsam mit Kommazahlen anfange, weil die grobe Einteilung nicht mehr ausreicht? Hier die nächste Stellung:

Bauernstruktur.

Hier steht es ausgeglichen, also 0,00 nach Material. Weiß hat es aber geschafft sich eine gute Bauernstruktur zu erhalten. Die Bauern hängen in Ketten zusammen, decken sich gegenseitig. Schwarz hat hingegen Doppelbauern, Randbauern und einen Isolani auf d4. König und Läufer versuchen den Laden irgendwie zusammenzuhalten. Das wirkt sich so stark aus, dass man die Stellung hier mit +3,00 oder sogar +3,50 bewerten müsste. Nächster Zug für Weiß wäre dann Kb3.

Und ein letztes Beipsiel: 1.e4 e6 2.Lc4 Dh4 3.Sc3 Lc5 4.d4 Lb6 5.Sf3 Dd8

Entwicklung.

Hier ritt Schwarz einen unglücklichen Schäfermatt-Angriff, den Weiß nutzte um seine Figuren zu entwickeln und das Zentrum des Brettes zu beherrschen. Und obwohl nichts Schlimmes bisher für Schwarz passiert ist und obwohl noch gar keine Figur geschlagen ist, müsste man diese Stellung bereits mit +1,00 bewerten.

Was lernen wir aus diesen Beispielen? Die Materialbewertung ist zwar ein super Mittel, es reicht aber alleine nicht aus. Im zweiten Schritt muss man immer die Struktur, das Zusammenspiel der Figuren prüfen. Nicht nur der eigenen Figuren! Wie sicher steht der König? Wer deckt wen? Wer ist ungedeckt? Wo blockieren sich Figuren? Wie ist die reine Bauernstruktur? Und zum Schluss schaut man wie gut die Figuren entwickelt sind, wie viele Felder sie beherrschen und wer das Zentrum der Brettes kontrolliert. Man muss nicht lauter Figuren auf die Zentrumsfelder stellen, es reicht sie mit Figuren zu bedrohen. Aber merkt euch, dass die Kontrolle des Zentrums in den meisten Partien spielentscheidend ist.

Zusammenfassung: Die reine Materialbewertung muss man verinnerlichen, man darf ihr aber nicht blind folgen. Das tun Computerprogramme heute auch nicht mehr. Natürlich ist ein Läufer eigentlich mehr wert als ein Springer, das ist aber abhängig von der Situation auf dem Brett. Zwei Läufer im Endspiel werden viel stärker als zwei Springer sein, ein einzelnen Läufer im Endspiel könnte aber nur auf seiner eigenen Feldfarbe herumziehen, ein Springer kann jedes Feld auf dem Brett erreichen. Bewertet also eine Stellung immer nach folgenden Kriterien:

- Material (Punkte: 9, 5, 3, 3, 1)
- Struktur (Königssicherheit, Bauernstruktur)
- Wirkung (Figurenentwicklung/Tempo, beherrschte und bedrohte Felder, Zentrumskontrolle)